Exkurs Nikolaus in Fontevraud
Zur Adresse: Frankreich hat Weiten - jeder deutsche Autotourist sieht sie, kennt sie. Was man aber auch sieht, ist, daß es auf dem Land, und dies freut einen, ganz offensichtlich noch heute keine dichte Besiedelung, geschweige denn Zersiedelung gibt. Wie einsam mag es da im Mittelalter gewesen sein? Man ahnt es. Wer also damals Zurückgezogenheit suchte, war in diesem riesigen Landstreifen zwischen Atlantik, Alpen und Vogesen ohne Zweifel gut aufgehoben. Eine ideale Situation für Klöster und derer gab es schon früh sehr viele. Eine der frühen Gründungen der Benediktiner, also des ersten großen Ordens überhaupt, war die Abtei Fleury-sur-Loire, später nach dem Ordensstifter zu Saint-Benoît-sur-Loire umbenannt. Dort in St. Benoît fanden um 672 auch die aus Montecassino (Italien) überführten (mutmaßlichen) Gebeine des Hl. Benedikts ihre letzte Grabstätte. Daß damit in Frankreich eine starke benediktinische Tradition entstand, wundert niemand. Wesentlich später als Fleury wurde Fontevraud (Fontevrault) l'Abbaye gegründet. Heutige Bezeichnung: L'Abbaye Royale de Fontevraud. Der Prediger und Einsiedler Robert d'Arbrissel war es, der 1101 (nicht, wie gelegentlich zu lesen, 1099 oder 1110) südöstlich von Saumur (Loire) im Tal von Fontevrault (Département Maine-et-Loire) für die Gründung einer Benediktiner/Benediktinerinnen-Abtei Grundbesitz erhielt. Eine Abtei hatte gegenüber einem einfachen Kloster besondere Rechte, sie konnte z.B. Filialen (Tochterklöster) gründen. So auch hier. Die Kongregation von Fontevraud bestand zum Zeitpunkt der französischen Revolution, während der sie im Rahmen der Einziehung der Kirchengüter und Säkularisierung 1790 aufgehoben wurde, aus 59 Klöstern, die alle sogenannte Doppelklöster waren, d.h. jede Anlage beherbergte Benediktiner und Benediktinerinnen.1 1117 war in Fontevrault der Chor erstellt und 1119 weihte Pabst Calixtus II. die bis dahin stehenden Teile ein. Von der stufigen Chorstruktur her zu urteilen, sollte ursprünglich wohl eine dreischiffige Basilika erbaut werden. Dazu kam es nicht, man erstellte stattdessen den riesigen, heute noch existierenden romanischen Langhaussaal mit seinen vier hintereinander gereihten Kuppeln. Bauzeit: 1104 bis gegen 1150. Um den Kirchenbau und die Kerngebäude herum entwickelte sich dann nach und nach ein Klosteranwesen mit einer sehr legendären Abteigeschichte. Manches davon ist heute noch ohne wagemutige Phantasie optisch nachzuvollziehen, denn Fontevraud gehört zu den größten erhalten gebliebenen Klosteranlagen Frankreichs und ist natürlich eine der Sehenswürdigkeiten der altfranzösischen Grafschaft Anjou.
Als nach den ersten Anfängen das Ansehen des Klosters stieg, kam die
Leitung der Abtei unter die Ägide einer Äbtissin und bald schickten die einflußreichsten Familien ihre (oft unverheiratbaren, "überzähligen") Töchter dorthin in die Klause. Geschützt wurde das Doppelkloster samt seinen Schwestern, Mönchen
und Äbtissinnen bis Ende des 16. Jahrhunderts durch das überaus mächtige englische Königsgeschlecht des Hauses Plantagenet. Wenn man bedenkt, welch eine sakrale Ausnahmerolle in den damaligen Zeiten dem Priester beigemessen wurde, ist die Unterordung der Mönche unter eine Äbtissin gewiß mehr als erstaunlich zu nennen. Doch es gab sie, diese Sozial- und Sakralordnung, für die der seltsam anmutende Begriff "Doppelkloster" steht - und man ahnt die ungeheure wirtschaftliche Macht, die in und hinter den Äbtissinnen gesteckt haben muß.
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Der Hl. Nikolaus erweckt drei eingepökelte Schüler zum Leben
In Fontevraud - der Grablege der Plantagenets im 12. und 13. Jahrhundert - starb 1204 die der Kunst, der Poesie und des Lebens zugewandte,
vielgerühmte Königin der Troubadoure, Eleonore von Aquitanien; ihre, wie gesagt wird, glänzende Hofhaltung in Poitiers hatte sich zu einem Zentrum höfischer Kultur entwickelt.
Sie besaß auch großen politischen Einfluß. In zweiter Ehe war sie mit
dem englischen König Heinrich II. (+ 1189) verheiratet gewesen. Ihre
erste Ehe mit dem König von Frankreich (Ludwig VII.) war, von einigem
Aufsehen begleitet, auf dem nationalen Konzil von Beaugency geschieden worden. Man setzte Eleonore in der großen Kirche neben ihrem Gatten
Heinrich bei, und wie es sich für eine nachfolgende Generation eben so
zu ziemen schien, bestattete man zu ihren Füßen ihren Sohn König Richard Löwenherz (ja, der einst unter Kaiser Heinrich VI. auf Burg Trifels eingekerkete und später gegen ein hohes Lösegeld wieder auf freien Fuß gesetzte), neben ihn seine Schwester Jeanne von England, zu Jeannes Füßen wiederum deren Sohn Raymond und schließlich noch Richards Schwägerin Isabelle von Angoulême, die Witwe von König Johann I. ohne Land. Alle sechs gehörten zum Haus Plantagenet. Die Grabstellen sind nicht mehr bekannt, überliefert sind nur noch die lebensgroßen, figürlich gearbeiteten Grababdeckungen von Heinrich II., Eleonore, Richard Löwenherz und Isabelle. In der für Zweck und Gegend unglaublich überdimensionierten romanischen Abteikirche - die vollkommen weiß ist (eigentlich weiß sein sollte, siehe unten) - nehmen sich diese (immer noch?) bunten Liegefiguren wie Überbleibsel einer verwunschenen mittelalterlichen Burg aus; sie gehören
mit Sicherheit zu den am meisten bestaunten Ausstellungsstücken der monumentalen Klosteranlage, deren Dächer einst über 60000 m2 überspannten. Verläßt man den
ebenfalls überdimensionierten Chor rechts, kommt man zum Klosterinnern und
zu einem teilweise sehr kunstvollen, aus dem 16. Jahrhundert stammenden
Kreuzgang, wo auch das obige Nikolausrelief 2 neben zahlreichen anderen Sakralreliefs in einer Fensternische zu sehen ist. Daß sich in Fontevraud eine Nikolauswiedergabe befindet, ist nicht überraschend, denn gerade die Benediktiner haben eine sehr lange Nikolaustradition. Sie betrachteten den Heiligen schon in Montecassino sehr früh als einen ihrer monastischen Vorbilder und als im Jahr 1087 die geraubten Gebeine des Nikolaus (oder was dafür gehalten wurde) nach Bari (Italien, Apulien) kamen, war es ihr Orden, der in der neu erbauten Basilika San Nicola das sakrale Gut in seine Obhut nahm.
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Ein Gedanke noch zur Überdimensionierung von Chor und Kirchenschiff. Es ist möglich, daß nicht nur Repräsentation der Grund dafür gewesen sein mag, sondern daß auch musikalische Vorstellungen eine Rolle gespielt haben könnten. Gregorianik dürfte hier besonders gelungen klingen. Jedenfalls fiel mir, als ich dort im Chor im Oktober 2001 mit dem Chor von St. Martin Kelkheim-Hornau von Palestrina ein Agnus Dei und von Rossini die getragene Motette "O salutaris hostia" sang, neben dem obligatorisch langen Hall eine eigenartige, sanft federnde Klanggebung auf, deren Grund ich mit den weichen, porigen Tuffsteinmauern (siehe unten) in Verbindung bringe. Die Kirche dient denn offenbar auch als Konzert- und Aufnahmeraum; etliche zum Kauf angebotene CDs deuten in diese Richtung. Liturgisch wird die Kirche wohl nicht mehr verwendet, irgendein sakrales Interieur sah ich nicht, ein ewiges Licht auch nicht. Man steht dort verloren inmitten einer weiträumigen Mauernhülle. Architektonisch besonders auffallend ist der Küchenbau des Klosters mit seinen spitzkegelförmigen Ziegeldächern (Rauchabzügen). Er stammt aus dem 12. Jahrhundert, ist 27 m hoch, mißt 11 m im Durchmesser und hat fünf Apsiden. Wer einmal in diesem Zentralbau stand, kann sich nicht erwehren, ihn eine Kuriosität zu nennen. Man geht wohl nicht fehl, ihm im Doppelkloster neben seiner Ernähungsfunktion eine entlastende Sozialfunktion beizumessen. Es möge sich hier jeder seine Gedanken machen. Von 1804 bis 1965 war die Klosteranlage ein Gefängnis. Kaiser Napoleon Bonaparte war es, der die Anlage zu dieser Rolle verdammte. Seit 1975 entwickelte sich Fontefraud l'Abbaye zu einem kulturellen Zentrum. Erbaut ist der gesamte Gebäudekomplex aus dem weißen und weichen Tuffstein, der im Loiretal überall zu sehen ist und der an der Luft, inbesondere bei den heutigen Umweltbedingungen, sehr schnell verschwärzt und dann bald zu faulen beginnt. Deshalb wird man das Kloster wohl nur selten ohne irgendwelche Renovierungs- oder Restaurierungseinrüstungen erleben. Wenn also oben in der Bildunterschrift die Möglichkeit der Verwitterung angesprochen wurde, so sollte dazu angemerkt werden, daß man bei der Betrachtung heutiger Zustände bedenken muß, daß diese durch Wiederherstellungsmaßnahmen sehr stark beeinflußt sein können. Übrigens scheint der Grünanteil, den die Fotowiedergabe zweifellos hat und der wohl durch eine feine, kaum wahrnehmbare Vermoosung und Veralgung des Tuffsteins zustande kommt, von manchen Bildschirmen und Browsern sehr stark betont zu werden. Eigentlich müßte die Farbgebung so sein: weiß, stellenweise hellbeige, vielleicht etwas beige (möglichst keine Grünanteile).
(DP, Online: 18.10.2001, Stand: 10.5.2009)
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Textur (= Hintergrund): Unbekannt