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Zum Werk
Oratorium ist Oper auf imaginärer Bühne’, entstanden
wie diese um 1600 in Italien: außer in die Kirche ging
man in den Betsaal nebenan, ins Oratorium, zum Hören
von Dichtung und Musik, zunächst zusammengestellt,
bald eigens verfaßt. Gebäudebegriff wurde Veranstal-
tungs-Bezeichnung: Man ging ins Oratorium. Wir erin-
nern an unsere Aufführungen des frühsten’ Oratoriums,
Cavalieris Rappresentazione (1968; 1998 halbszenisch).
Bachs große Werke (Passionen, Oratorien, Kantaten)
werden durch drei Text-Sorten geprägt:
1. Bibel-Wort, 1. Jh. - objektiver Bericht
2. Dichtung, 18. Jh. - subjektives Empfinden Einzelner
3. Kirchenlied, 16.-18.Jh. - Glaubenszeugnisse vieler
Dialog im Drama
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ist in Oper/Oratorium Rezitativ, Sprechgesang,
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Monolog ist
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Arie als Ziergesang für Einzelne bzw. für Chor, dies
Chor genannt: der Chor’ singt einen Chor’
(Besetzung als Formtitel; vgl. Concerto grosso),
oder ein (Strophen-)Lied.
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Den Bibel-Bericht des Evangelisten’ singt der Tenor
(Stil recitativo secco, d.h. trocken’, da kaum begleitet
von Cembalo oder Orgel); wörtliche Reden in verteilten
Rollen. Oft individuelle Ausdeutung!
Betrachtungen’ sind Eingangs- und Schluß-Chöre,
Accompagnato-Recitative (Rezitativ-Stil, aber begleitet
von Melodie-Instrumenten, quasi arioso) sowie Arien.
Einzelstimmen oft als Rollen’, etwa Jesus und Jünger,
oder allegorische Figuren wie Glaube und Zweifel.
Die Choräle, d.h. Lieder der Kirche, verstärken dies.
Kontemplation’ ist Einstimmung, Innehalten, Zusam-
menfassen, wie Bilder, Kreuzwegstationen u.a.
Bachs Weihnachts-Oratorium hat keine festen Rollen.
Verlangt man, Oratorium’ müsse Handlung bieten, so
sehe man es stilisiert, episch (wie Händels Messias). Die
Altstimme empfindet man in Nr.3/4 als Tochter Zion,
Braut des erwarteten Messias, doch in Nr.31 als Mutter
Maria. Tenor (in Nr.15), Sopran (soweit nicht Engel),
Baß, Chor könnten Hirten sein. Doch sie alle sind
zugleich und vielleicht noch mehr Glaubende’, als
Individuen wie als Gemeinschaft, für Bach in seiner
Gemeinde, für uns in unserer: alle, die sich Gedanken
machen, sich fragen, Gott fragen, Anteilnahme zeigen,
danken und loben, alles als Beispiel und somit auch als
Zuspruch.
Bachs Weihnachts-Oratorium ist vielschichtig. Auch wer
es lange und gut zu kennen meint (der Leiter dieser
Aufführung hat sogar ein Regie-Konzept ...), entdeckt
immer wieder Interessantes und Wunderbares, wie bei
allem wahrhaft Großen!
Verstehen wir die heutige Aufführung einmal vor
allem als große Hirtenmusik’, als Hirten-Spiel:
Hirten auf dem Weg zur Krippe nach Bethlehem,
wohlwissend, daß der Weg weiter geht, nach
Golgatha und endlich zum himmlischen Jerusalem!
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Zur Interpretation
Für die Interpretation Alter Musik’ bevorzugen heute
viele Interpretierende wie Hörende statt großen philhar-
monischen Aufführungs-Apparats des 19./20. Jahrhun-
derts, wie ihn viele schätzen und lieben, die sogenannte
Historische Aufführungspraxis: kleine Ensembles, alte’
Instrumente, Kirchenmusik mit Knaben, Soli wie Chor.
Beträchtliche Unterschiede gibt es da, wie bei Sprache
und Sprechen: Für das Singen und Spielen barocker Me-
lodien, ihrer vielgestaltigen Motive, die vielen Stufen
zwischen - wie wir gern sagen - gestischem Singen (rhe-
torisch phrasiert, artikuliert) und unendlicher Melodie,
ist spezielles Einfühlungsvermögen gut, Kenntnis der
alten Rhetorik, der Theorie der Redekunst, noch besser!
(Ver-)Urteilen sollte man nicht! Auch auf modernen’
Instrumenten gelingt es, barocker Klangrede zu ent-
sprechen, und die historische Szene’ ist nicht gefeit vor
Klang pur, sprich: nur Sound. Musik wirkt unterschied-
lichst, und Bach hält alles aus, behält sogar verfremdet’
seine unverwechselbaren Qualitäten.
Unsere Einstudierung sucht wichtigsten Regeln barok-
ker Aufführungspraxis zu entsprechen:
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rhetorisch’ sprechende Phrasierung,
deklamierend atmendes Gliedern
von Text- und Melodie-Phrasen,
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gestische’ Artikulation,
barockes Betonen oder Kürzen von Tönen u.ä.,
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dies in allen Vokal- und Instrumental-Parts,
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bei fließenden bis zügigen Tempi,
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zwar statt Knaben- Frauen- und Männerstimmen,
solistisch wie als moderner gemischter Chor,
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aber mit historischen’ Instrumenten
(tiefere Stimmung, besondere Maße und Bohrungen,
Darm-Saiten, Kurzbogen u.a.),
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schließlich in unserer kleinen Kirche
auch die Streicher in kleiner Besetzung.
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Noten-Material: Neue Bach-Ausgabe (Bärenreiter)
unter Mitbenutzung von Editionen anderer Verlage
Kürzungen in zwei langen’ Arien: verkürztes Dacapo,
wie öfters von Bach so komponiert (Sprünge in der
Schlafe-Arie Nr.19/T.49-72, im Duett Nr.29/T.31-77).
Unsere Hörhinweise: stichwortartig beim Gesangs-
Text, nicht vorn oder hinten im Programm ausformuliert,
schnell zu lesen und (hoffentlich!) hörend umzusetzen.
- Informationen: Besetzungen (Bc. = Basso continuo: durch-
gehender Generalbaß in Cello/Baß mit Harmonien im Tasteninstrument)
- Charakteristika unserer Interpretation
- Unterstreichungs-Hinweise auf einzelne Wörter,
die hörbar sinnfällig vertont scheinen, symbolisch/lautmalerisch:
durch Auf- oder Abwärts-Melodik, Verzierungen, Erwartetes oder
Überraschendes in Melodie, Harmonie, Takt, Rhythmus u.ä.
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