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Darstellungen der Passion, des Leidens und Sterbens
und auch der Auferstehung Jesu Christi sind uralte
Anliegen in der christlichen Welt, für alle Sinne, in allen
Künsten, durch mannigfaches Er-Leben. Was wußte
etwa Albrecht Dürer vom sinnenden Jesus, was wir nicht
wissen? Und was erweckt Johann Sebastian Bach in uns,
wenn wir seinen Ver-Tonungen lauschen?


Die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach gilt
als unvergleichliches Meisterwerk christlich-abendländi-
scher Musik, ja menschlicher Kultur überhaupt. Doch
gemach: ,Die’ Matthäuspassion? Auch ,Werke’ wie sie
waren und sind nicht einfach ,da’, vielmehr können wir
meist einen Entstehungs-Prozeß bestaunen!

Bach schrieb für Karfreitag 1727 als Leipziger Gottes-
dienstmusik eine Passion nach Matthäus, wohl die
Urfassung. Weitere Aufführungen folgten, je neuen
Bedingungen angepaßt, z.B. durch Tausch von Stücken
und Besetzungen: 1729, 1736, 1742.

Bachs ,Reinschrift-Partitur’ von 1736 und ein Text-
buch-Druck für (Karfreitag 15.4.) 1729 in Leipzig sind
erhalten. Diese kannte Mendelssohn 1829. So galten für
ihn (und seitdem) 1729 als Entstehungsjahr, 1736 als Jahr des ,letzten Willens’ und seine Wiederaufführung des in Vergessenheit geratenen Werks in Berlin als die erste ,nach 100 Jahren’.

Die Musikforschung indes ruhte nicht. Wir kennen die
,verlorene’ Fassung 1729 wohl doch, aus einer
erhaltenen Abschrift durch Johann Christoph Altnickol,
1719-1759, Bachs Schüler und Schwiegersohn, von ca.
1755. Weiteres schließt man aus Orchesterstimmen-
Eintragungen u.ä. und meint heute: die Entstehung liegt
vor 1729, wohl 1727, z.T. noch früher, und 1742 fand
eine vierte Aufführung durch Bach statt, wieder mit
Änderungen (z.B. statt 2 Orgeln 1736 und 1729 nur einer
für beide Chöre nun Orgel und Cembalo, warum auch immer).

Manche schätzen nur großen Aufführungs-Apparat,
andere nur kleinen mit alten Instrumenten samt
Knabenchor. Dabei kann auch Spiel auf modernen
Instrumenten Klangrede sein, das auf historischen Klang pur, sprich Sound. Viele Stufen gibt es zwischen dem -
wie wir sagen - gestischem Singen (rhetorisch phrasiert,
artikuliert) und unendlicher Melodie. Bachs ,Reinschrift’
ist zwar zeitlich ,letzte Fassung’, doch nicht testamen-
tarische ,Letzt-Fassung’. Er hat unterschiedlich, hat an-
gepaßt musiziert. Das darf und soll man auch heute. Jede
Art hat Für und Wider!

Wir hatten 1976 und 1989 in größeren Kirchen größere
Besetzung, 2001 hier kleinere. Für uns sind die berühmte
Doppelchörigkeit, die schlichten Choräle und die ly-
risch-kammermusikalischen Arien gleich bedeutsam.

Dies erkannten viele Zuhörende, darunter Skeptiker: so
,ganz nah dabei’ und wie ,persönlich angesprochen
haben sie das bekannte Werk ,geradezu neu erlebt’,
junge Leute schwärmten von Kult-Konzert und Fans des
Chors meinten, die ,Schütz’-Kantorei solle sich umbe-
 


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nennen in ,Bach’-Chor ... Da muß eine weitere Auf-
führung folgen!


Drei Text-Arten dienen für Passions-Vertonungen:

  • der objektive alte Bericht der Bibel (1. Jh.),
  • zeitgenössische Dichtung (18. Jh.)
    als subjektives ,Betrachten und Bedenken’,
  • bekannte Kirchenliedstrophen als
    bewährtes Glaubensgut der Kirche (16./17. Jh.).

Die Musikgeschichte kennt aus früheren Zeiten nur
reine Bibeltext-Vertonungen:

  • Motettische Passionen - für Chor allein,
  • Choral-Passionen - für Chor und Soli, unbegleitet,
    mit verteilten Rollen singend (,Choral’ hier nicht
    ,Lied’, sondern Altargesang, wie Gregorianischer
    Choral).

Aus beiden entstanden durch Hinzunahme weiterer
Texte (aus Bibel und Gesangbuch, dann spezieller
Dichtung) im 17./18. und 19. Jh.:

  • Oratorische Passion - etwa Werke von
    Thomas Selle (Hamburg 1643), G.F. Händel,
    R. Keiser, Gg.Ph. Telemann, Bach u.v.a.
  • Passions-Oratorium - kein oder kaum Bibeltext,
    reine ,Betrachtung’: Graun, Beethoven u.a.

Oratorium ist ,Oper auf imaginärer Bühne’, entstanden
wie diese um 1600 in Italien: außer in die Kirche zur
lateinischen Messe ging man in den Betsaal daneben, ins
Oratorium zum Hören von Dichtung in der Landes-
sprache und Musik, zunächst zusammengestellt, bald
eigens dafür komplett verfaßt. Der Gebäudebegriff
wurde Veranstaltungs-Bezeichnung: Man ging ins
Oratorium. (Wir haben das erste berühmte solche Werk,
Cavalieris Rappresentazione, aufgeführt: 1968, 1998
halbszenisch.)

In Oper und Oratorium entsprechen dem Dialog eines
Dramas der eher freie Sprechgesang, das Rezitativ, und
dem Monolog das (Strophen-)Lied und die Arie als
Ziergesang, für Einzelne wie für Chor. Spätere Zeiten
mißverstanden solch darüberstehende Besetzungsanga-
ben als Überschriften, als Form-Titel: u.a. ,Chor’ (wie
Concerto grosso). So sagen wir: Der Chor singt einen
Chor, z.B. aus der Matthäuspassion ...

In oratorischen Passionen finden im vom ,Evangelisten’,
dem Solo-Tenor, getragenen Bericht die wörtlichen
Reden je individuelle Ausdeutung: die Worte Jesu, der
Jünger, des Pilatus, der Hohenpriester, des Volks (durch
verschiedene Solostimmen bzw. Chor oder Doppelchor).

Die ,Betrachtungen’ (Eingangs- und Schluß-Chor, die
Accompagnato-Recitative und Arien) halten inne, wie an
Kreuzweg-Stationen. In Bachs Matthäuspassion dialo-
gisch: Da klagt die ,Tochter Zion’, welche gemäß alt-
testamentlicher Hoffnung den wie einen Bräutigam
erwarteten und erkannten Erlöser nun leiden sieht und
wieder verliert, stellvertretend für Zuhörende, Singende,
Spielende. Keine feste allegorische Person, ihre Worte
werden abwechselnd von allen Soli und Chor I, teils
beiden Chören, vorgetragen. Chor II sind (gemäß neu-
 

 

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testamentlichem Zeugnis) ,Glaubende’, für Bach seine
Gemeinde, insgesamt gesehen: Christen zur Zeit der
Aufführung, ebenso stellvertretend. Sie fragen und
zeigen Anteilnahme. Daraus wird zunehmend Zuspruch,
Bekenntnis und Lobgesang.

Die Choräle, d.h. die Lieder der Kirche haben
verstärkende Funktion.

Passions-Musik zeitigt sehr Unterschiedliches an Nach-
denken und Einsichten über den Menschen Jesus als
Opfer politischer Verhältnisse oder eines Justizirrtums,
an Empfinden menschlichen Mitleids; bisweilen Ideen
von ,Mit-Leiden’ oder Nachleiden, was wohl mensch-
liche Kräfte übersteigen dürfte.

Bei Bach, der sowohl Sinn für theologische Orthodoxie
wie für persönlichen Pietismus besaß, erklingt immer
wieder das Wort ,ich’ besonders ,betont’. Die hier
durch Matthäus Genannten (Judas, Petrus, Rat und Volk
der Juden u.a.) sind ,nur’ Werkzeuge in Gottes Heils-
Plan. Von ihnen wird abgelenkt, weitergedacht auf das je
eigene ICH. Da entsteht aus subjektivem Klagen persön-
licher Dank, bis es im Schluß-Chor sogar nach den
Anfangsworten ,Wir setzen uns mit Tränen nieder’
schließlich - zum Erstaunen vieler Hörer - heißen kann:
,Höchst vergnügt schlummern da die Augen ein’.

Dieser Einsicht soll unsere musikalische Interpretation
folgen: kein kleingläubiger Klagegesang soll es sein,
sondern ein im Tiefsten gläubiger Lobgesang!

Im Sinne des Kantors Bach sollte dreierlei durch ein
Werk wie Bachs Matthäuspassion und durch jede Auf-
führung spürbar werden:

  • die Verkündigung der Erlösung Glaubender,
  • das Bekenntnis der Veranstalter zu solcher Erfahrung,
  • die Einladung an die Hörenden zu individuellem Glauben.


Unsere musikalische Einstudierung versucht, den
wichtigsten Regeln barocker Aufführungspraxis zu ent-
sprechen:

-   ,rhetorisch’ sprechende Phrasierung (deklamierend
atmendes Gliedern von Text- und Melodie-Phrasen) und
- ,gestische’ Artikulation (Vortragsart, zum Barock pas-
sendes Betonen oder Kürzen von Tönen u.ä.),

beides in allen Vokal- und Instrumental-Parts und bei fließenden bis zügigen Tempi.

Zwar singen bei uns statt Knaben Frauen- und Männer-
stimmen
, solistisch und als moderner gemischter
Chor (wenn auch ,Laien-Chöre’ auf manchen ,Seiten’
von vornherein abqualifiziert werden); folglich
übernehmen im Eingangs-Satz auch Frauenstimmen die
Choral-Melodie (sonst gern Knaben anvertraut; welch
organisatorischer Aufwand für so wenige Töne ...).

Gespielt wird jedoch auf ,historischen’ Instrumenten
(mit tieferer Stimmung, besonderen Maßen und Bohrungen,
mit Darm-Saiten, Kurzbögen u.a.);
zudem spielen in unserer kleinen Kirche die Streicher
in kleiner Besetzung.

Zur Doppelchörigkeit: Der Dialog zwischen ,Tochter
Zion’ und ,Glaubenden’ war Bach bereits anfangs wich-
 


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tig, dann zunehmend in Wiederaufführungen, für die er
z.T. ganze Stücke und Besetzungen ausgetauscht hat.
Echt doppelchörig zu nennen sind bestenfalls zehn der
29 ,Chöre’ (außer Chorälen) bei insgesamt 68 Nummern,
sogar teils nur an ihrem Anfang oder Ende. Unsere lange
Erfahrung sagt: spontan erfaßt wird diese ,Doppelchörig-
keit’ durch die wenigsten Hörenden, selbst bei Eingang
und Schluß, auch vor breiten Podien oder bestem Stereo!
Erst Wissende ,hören’ es, zumal wenn sie nach Hör-
Hinweisen den Text (in Programmheft oder CD-Booklet)
mitlesen, gegebenenfalls Noten.

Dies ist auch in kleinerem und auf engerem Raum
möglich, welcher dafür die Ausführung von Acht-
stimmigkeit erleichtert und überdies die Wirkung des
kammermusikalischen Charakters der Arien begünstigt.

Unser Chor ,steht’ zusammen, die Stimmgruppen
S,A,T,B hintereinander (links Chorgruppe I, rechts II)
und singt je nach Stück vierstimmig, achtstimmig oder
doppelchörig:

a)  4- bzw. 8-stimmig bedeutet: die Komposition hat
4 Stimmen (Melodien),
Sopran, Alt, Tenor, Baß bzw. S1, S2, A1 usw.,
  • entweder ,homophon’ gesetzt, d.h.
    eine führende Stimme mit Begleitstimmen,
    Text gleichzeitig, vgl. ,natürliche zweite Stimme’,
  • oder ,polyphon’ gesetzt, d.h.
    viele Stimmen gleichberechtigt,
    insbesondere rhythmisch selbständig,
    Textteile nach- und gegeneinander, vgl. Kanon;
b)  doppelchörig: 2 x SATB (meist homophon), abwechselnd, ergänzend.

Die Soli sind je einmal besetzt sowie im Orchester
Flöten, Violone (Kontrabaß) und Orgel (gemäß Bachs
Frühfassung).

Getrennte Ensembles sind die Streicher mit je 2 Oboen,
links das zu Chor I, rechts zu II, die Violinen I je außen,
wodurch im Rahmen des Erforderlichen und des
Möglichen eine Dialog- bzw. Stereo-Wirkung entsteht.

Vollständig oder gekürzt? Schon die Frage gilt man-
chen als Mangel an Ehrfurcht vor großen Werken. Zu
Bachs Zeit war Anpassen selbstverständlich, Sohn
Philipp Emanuel kombinierte Stücke aus Vaters
Matthäuspassion mit Eigenem, Mendelssohn kürzte 1829
in Berlin ,radikal’. Unser ,Ideal’ heißt auch: vollständig.
Doch Rahmenbedingungen verlangen zu fragen: bei über
drei Stunden mit oder ohne Pause?, deren Länge?,
Nachmittag und Abend oder zwei Abende? ... Selbst bei
Bach-Festen wird unterschiedlich verfahren. Kürzungen
sind vielleicht gegen das Werk, aber für die Zuhörenden!
Wir kürzen also, zur Erleichterung konzentrierten
Hörens, um gut 30 Minuten; genaue Angaben im
Textdruck.

Unsere Hörhinweise sind begrenzt und nicht vorn oder
hinten im Programmheft ausformuliert, sondern stich-
wortartig beim Gesangs-Text: schnell zu lesen und
(hoffentlich!) sofort hörend umzusetzen, wenigstens
meist.
 

 
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